Schutzwagen




Moderator: HF110c

Schutzwagen

Beitragvon Atlanta » Di 11. Aug 2020, 02:54

Moin Kollegen,

es gibt im deutschen Eisenbahnwesen aus der Zeit der Dampflokomotiven eine besondere Art Wagen, zu denen es fast keine nägeren Informationen gibt, obwogl sie in verschiedenen Texten vieler Autoren und derer Publikationen sehr häufig erwähnt werden.

SCHUTZWAGEN*

Was sind Schutzwagen und wozu dienen Sie?

In der Frühzeit der Eisenbahn, als man mit der Herstellung von fahrbaren Dampfmaschinen noch sehr wenig Erfahrungen hatte, ist es wohl des Öfteren auch zu schwerwiegenden Unfällen gekommen, daß durch Bedienfehler der Dampfkessel zerknallte und durch die dadurch ausgelöste Explosion nicht nur das Betriebspersonal tödlich verunglückte, sondern auch zahlendes Publikum bei der Mitfahrt zu Tode kamen oder vom siedenden Wasser verbrüht wurden.

Um Unfällen jener Art entgegenzuwirken beschloß zunächst Preußen eine gesetzliche Anordnung, daß kein Zug mehr bewegt werden durfte wenn sich nicht zwischen der Lokomotive und dem ersten mit Publikum besetzten Wagen, mindestens ein unbesetzter** Schutzwagen befand, der eine Mögliche Druckwelle einer Kesselexplosion nach hinten zum Zug absichert.

Als Schutzwagen können Güterwagen mit ungefährlichen Gütern oder Gepäck- und Postwagen eingesetzt werden, dabei spielt es im Sinne der Vorschrift keine Rolle, ob sich Betriebspersonal im Wagen befindet, das es sich ja nur um unterwiesenes Personal handelt, dem die Gefahren bewußt sind, denen sie sich aussetzen, um ihre Dienstpflicht zu erfüllen.

Die Beschaffenheit der Schutzwagen.

Schutzwagen sollen zur Seite der Lokomotive hin keine Türen oder Plattformen (Perron) haben.
Liegt zur Lokomotivseite ein nur von außen zugängliches Abteil, so ist dieses verschlossen zu halten und äußere Griffstangen und Trittbretter müssen vor diesem Abteil, in ausreichendem Abstand, enden, so daß dieses während der Fahrt nicht erreichbar ist.
Persönliche Gegenstände und Arbeitsmaterialien dürfen aber in diesem Schutzabteil mitgeführt werden.

Schutzwagen machten aber gewaltige Probleme in Kopfbahnhöfen oder Stationen, wo diese Wagen unter Umständen nach kurzem Aufenthalt in entgegengesetzter Richtung wieder den Bahnhof verlassen sollten.

Wo keine Lokomotiven gedreht werden konnten, setzte man Tenderloks ein, hatte man dann aber das Pech, den Schutzwagen ggfs. nicht drehen zu können, stand man vor einem gewaltigen Problem.

Die Wand zur Lokomotive durfte keine Türe haben, war aber wegen eines nicht drehbaren Schutzwagens, doch eine Tür vorhanden, mußte dieser gesamte Wagenteil für die Rückfahrt abgesperrt werden oder man führte eine Güterwagen mit.

Über Betriebsabläufe jener Zeit herrschte Allgemein "großes Rätselraten", bis ich zufällig auch ein Buch aufmerksam wurde, in dem ich diese Textstelle fand...
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Gemeinfreier Textauszug - Urheberschutz abgelaufen - Handbuch der Ingenieurwissenschaften V. Teil Band 4 - Anordnung der Bahnhöfe von 1914

So ganz nebenbei wird in diesem Fachbuch die Betriebsordnung erwähnt, daß es im Nahverkehr auf zweigleisigen Bahnen zulässig war, wenn kein Schutzwagen mitgeführt wurde, das jeweils vorderste, nur von außen zugängliche Abteil, verschlossen zu halten, um die Schutzfunktion erfüllen zu können, wenn die maximale Zuglänge 40 Achsen*** nicht übersteigt und mit einer maximalen Geschwindigkeit 60 km/h beträgt.

Die Erlaubnis das oder die vorderen Abteile, wenn mehrere Abteile und ein Abort miteinander verbunden sind, für Reisende zu sperren, gilt auch dann wenn der Schutzwagen, nicht gewendet werden kann oder um Zeit einzusparen, am anderen Zugende verbleibt.

Bei anderen Personenzügen, greift eine ähnliche Vorschrift, wenn im Zug das Einlaufen in mehrere Kopfbahnhöfe vorsieht, so muß sich auf dem jeweils längsten Streckenabschnitt ein Schutzwagen hinter der Lok befinden.

Kurswagen müssen hinter vorausfahrenden Schutzwagen plaziert sein.

Wo werden Schutzwagen in Endbahnhöfen abgestellt?

Schutzwagen werden sinnvoller Weise in der Nähe der Drehscheibe von Lokomotivschuppen abgestellt. Werden aus einem Bahnhof in zwei entgegengesetzten Richtung Züge abgelassen, befinden sich auch für die entsprechenden Richtungen Schutzwagen in den Abstellgleisen.
Es sind jeweils zwei Gleise je Richtung vorzusehen und ein weiteres Gleis mit Reservewagen, die eventuell aber erst noch gedreht werden müssen.
Eine örtliche Rangierlok kümmert sich um die Bereitstellung der Schutzwagen.

Lokomotiven die vom Schuppen kommen, müssen zuerst einen Schutzwagen aufnehmen und setzen dann in das Wartegleis um oder direkt an den bereitgestellten Zug.

Die Lokleitung gibt entsprechende Einsatzbefehle bekannt, denn nicht immer ist es auch erforderlich einen Schutzwagen mitzunehmen.

Bis wann die Plicht bestand, Schutzwagen mitzuführen entzieht allerdings meiner Kenntnis.

Fazit:
Den BW Planern unter uns, wird die Erkenntnis Schutzwagengleise vergessen zu haben wohl wenig behagen...?



* Einzahl u. Mehrzahl gleiches Wort
** unbesetzt, nach dieser Vorschrift heißt, den möglichen Gefahren unterwiesenes Betriebspersonal ist hiervon ausgenommen.
*** Die Achsen der Lok sind mitzuzählen.

Schönen Gruß,

Ingo
Schönen Gruß,
Ingo
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G.W.&.A.R.R. in H0 US Süd- und Pfirsichstaat Georgia 1928
L.T.E. – Lübeck Travemünder Eisenbahn Epoche I + II in H0/H0e
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von Anzeige » Di 11. Aug 2020, 02:54

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Re: Schutzwagen

Beitragvon Allstromer » Di 11. Aug 2020, 08:21

Danke Ingo für diesen Ausflug, sehr informativ!

Gruß
Moritz
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